Im Interview sprechen die Forschenden über Herausforderungen des Verfahrens und wie sie mit ihrem neuen Projekt an Ansätzen für die Praxis forschen. Julia Steinhoff-Wagner ist Professorin für Tierernährung und Metabolismus an der TUM. Dr. Jan Harms koordiniert an der LfL den Arbeitsbereich „Systeme der tierischen Erzeugung“. Prof. Eva Zeiler arbeitet als Tierärztin und leitet den Lehrstuhl für Tierproduktionssysteme in der ökologischen Landwirtschaft an der HSWT.
An welchen Stellen gibt es Forschungsbedarf bei der kuhgebundenen Kälberaufzucht?
Julia Steinhoff-Wagner (TUM): Aus meiner Sicht gibt es einige Grundsatzfragen, die bisher noch nicht geklärt wurden. In mancher Hinsicht, beispielsweise für den Immunstatus, bringt die kuhgebundene Kälberaufzucht Vorteile mit sich. Andererseits: Wird das Kalb erst später von seiner Mutter getrennt, ist damit deutlich mehr emotionaler Stress verbunden als direkt nach der Geburt. In unserem Forschungsprojekt ist es uns wichtig, das Tierwohl ganzheitlich zu betrachten. Wir müssen darauf achten, dass sich durch die kuhgebundene Kälberaufzucht das Tierwohl und die Tiergesundheit verbessern oder, wenn diese bereits auf einem guten Niveau sind, dort erhalten werden.
Unser Plan ist, Landwirt:innen zunächst mit einer Online-Umfrage zu befragen, welche Herausforderungen sie sehen. Dies umfasst Fragen der Tierernährung, zum Beispiel wie Kuh und Kalb entsprechend der Empfehlungen versorgt werden können, genauso wie den Bereich Landtechnik, etwa wie Fressgitter aussehen müssen, dass die Kuh jederzeit Zugang zu Futter hat und trotzdem das Kalb nicht hindurchschlüpfen kann.
Eva Zeiler (HSWT): Als Tierärztin finde ich besonders spannend, wie sich kuhgebundene Kälberaufzucht auf die Eutergesundheit und die Inhaltsstoffe auswirkt. Wenn mehrere Kälber an der Kuh saufen, wird das Euter häufiger komplett geleert, was sich positiv auswirkt. Andererseits haben wir beobachtet, dass die Zitzen durch das Saugen und fehlende Pflegemittel stark beansprucht werden und es zu Hyperkeratosen kommen kann.
Frau Prof. Zeiler, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung intensiv mit Tierhaltung in der ökologischen Landwirtschaft. Dort gibt es Betriebe, die bereits erfolgreich kuhgebundene Kälberaufzucht praktizieren. Welche Erfahrungen mit kuhgebundener Kälberaufzucht konnten Sie bereits in der Praxis beobachten?
Eva Zeiler (HSWT): In der Tierarztpraxis wie auch bei Forschungsprojekten nehme ich wahr, dass immer mehr Betriebe Interesse an kuhgebundener Kälberaufzucht zeigen – aus Gründen der Arbeitswirtschaft, des Tierwohls oder der Tiergesundheit. Wir haben allerdings festgestellt, dass es nicht ein Standardsystem für alle Betriebe gibt. Wie ein Betrieb das Verfahren umsetzt, muss zum Hof, der Herde und den Arbeitsabläufen passen. Außerdem: Nicht für jeden Betrieb passt kuhgebundene Kälberaufzucht. Unsere Erfahrungen aus Forschung und Praxis werden wir in dem neuen Verbundprojekt einbringen.
Was hält Landwirt:innen aktuell noch davon ab, dieses Konzept auf ihren Höfen umzusetzen?
Jan Harms (LfL): Das Interesse von Landwirt:innen an dem Konzept wächst. Häufig spüren wir allerdings eine gewisse Unsicherheit. Sie fragen sich, wie sich das Konzept auf das Tierwohl auswirkt. Das betrifft zum einen die Kälber: Bekommen sie ausreichend Milch? Nehmen sie das Verfahren überhaupt an? Schließlich sieht man nicht mehr, wie viel das Kalb aus Eimer oder Tränkeautomat getrunken hat. Manche Landwirt:innen haben die Erfahrung gemacht, dass Kühe nicht immer mütterlich mit den Kälbern umgehen. Bezüglich der Kühe möchten wir die Eutergesundheit untersuchen und wie es sich auf Kuh und Kalb auswirkt, wenn nach einer langen Bindungsphase Kuh und Kalb getrennt werden. Neben Tierwohlfragen ist die Vermarktung noch ungeklärt. Wird der Zusatzaufwand auch am Markt und letztendlich von den Konsument:innen honoriert?
Eine Sorge landwirtschaftlicher Praktiker:innen ist, ob die Kälber genug Milch bekommen. Wie können Landwirt:innen dies sicherstellen?
Julia Steinhoff-Wagner (TUM): Zwei Zeitabschnitte sind besonders kritisch, wenn es um die Milchaufnahme geht: Direkt nach der Geburt und nach der Trennung von der Kuh. In diesen Phasen kommt es häufiger vor, dass die Kälber nicht genug Milch trinken. Daher ist es wichtig, in beiden Fällen die Kälber gut zu beobachten und falls nötig, Hilfestellung zu geben. So müssen die Kälber beispielsweise nach der Geburt lernen, das Euter zu finden oder nach der Trennung von der Mutter mit Eimertränken und Festfutter umzugehen. Damit Landwirt:innen, aber auch Dritte wie Berater:innen oder Tierärzt:innen bewerten können, ob das Kalb ausreichend versorgt ist, entwickeln wir Beurteilungsbögen, die sich vor allem mit den von außen sichtbaren Indikatoren beschäftigen.
Wie unterstützt die LfL aktuell interessierte Landwirt:innen dabei, kuhgebundene Kälberaufzucht auf ihren Betrieben umzusetzen?
Jan Harms (LfL): Mit Forschungsprojekten wie diesem erarbeiten wir wissensbasierte Lösungen für die Fragen der Landwirt:innen. Aus den Ergebnissen erstellen wir Beratungsunterlagen. Außerdem bieten wir mit Infoveranstaltungen eine Plattform, sodass sich Landwirt:innen vernetzen und über Erfahrungen austauschen können. Somit muss nicht jeder erst einmal selbst Erfahrungen sammeln, sondern wir können die Landwirt:innen mit dem gesammelten Wissen unterstützen.
Wie wirkt sich die Kuhgebundene Kälberaufzucht auf die Milchleistungsprüfung aus?
Eva Zeiler (HSWT): Aktuell fallen Kühe aus der Milchleistungsprüfung (MLP), wenn sie drei Mal nicht kontrolliert wurden. Das ist ein großes Problem - schließlich ist die MLP ein wichtiges Tool, um Tiergesundheit und Ernährungsstatus zu bewerten. Zuchtbetrieben fehlt darüber hinaus ohne MLP eine essenzielle Grundlage für die Zuchtwertschätzung. Gemeinsam mit dem LKV Bayern entwickeln wir in unserem Projekt eine Lösung dafür. Unsere Idee ist es, auf Basis der vorherigen Leistungen hochzurechnen, wie viel Milch die Kuh in der Phase gibt, in der sie das Kalb säugt. Zusätzlich sichern wir dies über die Tageszunahmen des Kalbes ab. Landwirt:innen müssen sich somit nicht mehr zwischen kuhgebundener Kälberaufzucht und Milchleistungsprüfung entscheiden.
Das Projekt: Kuhgebundene Kälberaufzucht auf Milchviehbetrieben in Süddeutschland - Entwicklungen von Indikatoren zur Bewertung von Tierwohl und Milchmengen
- Das Interesse von Milchviehbetrieben an kuhgebundener Kälberaufzucht wächst und manche Praktiker:innen setzen bereits auf das Konzept. Konkrete Leitlinien und Managementempfehlungen aus praxisorientierter Forschung fehlen allerdings bislang. Ziel des Projektes ist es, Umstellungshemmnisse zu identifizieren und geeignete Indikatoren zur Bewertung von Tierwohl und Milchmengen in der kuhgebundenen Kälberaufzucht auf Milchviehbetrieben in Süddeutschland zu entwickeln und diese zu erproben.
- Die Forschenden von HSWT, LfL und TUM befragen im Projekt Milchviehbetriebe mittels einer Online-Umfrage. Die Umfrage richtet sich an alle milchviehhaltenden Landwirt:innen unabhängig von der Haltungsform der Kühe und Kälber. Die Beantwortung des Fragebogens nimmt etwa 10-20 Minuten in Anspruch.
- Zudem werden mindestens fünf ausgewählte Betriebe, die kuhgebundene Kälberaufzucht praktizieren, umfassend hinsichtlich Trennungsmanagement und Umsetzung von Versorgungsempfehlungen untersucht. Dabei gehen die Wissenschaftler:innen speziell auf den Ernährungsstatus der Kälber und die getrunkene Milchmenge ein, um zum einen geeignete Tierwohlindikatoren für Kälber und Kühe in einem kuhgebundenen Aufzuchtsystem zu finden und zum anderen ein System zur Kompensation bei der Milchleistungsprüfung zu schaffen.
- Die Studie wird gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Tourismus.
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Dr. Julia Steinhoff-Wagner
Technische Universität München
Professur für Tierernährung und Metabolismus
jsw(at)tum.de
Kontakt im TUM Corporate Communications Center:
Magdalena Eisenmann
Pressereferentin
Tel. +49 8161 71-6127
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